Ich fahre fünf Stunden durch Deutschland, von Kassel über Ulm und Friedrichshafen. Dann erreiche ich mein Ziel: In Hagnau am Bodensee hat sich ein grauer Nebel in die Straßen gelegt, über die wenigen Häuser, über die Weinfelder an der Wilhelmshöhe und mitten auf die Gemeinde, auf die Schiffe am Hafen.

Obwohl es mich eigentlich immer eher in die Ferne verschlägt, über Ländergrenzen hinaus, fühle ich mich hier gleich gut aufgehoben. Von meinem Zimmer habe ich einen Blick über die Weinreben direkt vorm Haus bis hin zum Bodensee. Hagnau will erkundet werden, die Hagnauer Weine getrunken.

Doch zuerst zieht es mich ans Wasser: Der Bodensee erstreckt sich von meinen Füßen bis zum Horizont. Bei gutem Wetter sieht man hier bis in die Berge, wird mir erzählt, und ich glaube das gerne. Der See zeigt mir seine Farben, er schimmert grün und blau und ich bemerke, dass mir die Sonne gar nicht unbedingt fehlt. Der Wind tanzt auf dem Wasser, es ist schön hier.

Ankunft

Einen Überblick über Hagnau verschaffe ich mir auf der Wilhelmshöhe. Der Aussichtspunkt liegt inmitten der vielen, aufgereihten Reben und der Blick macht deutlich, worauf das Winzerörtchen baut: Wein, wohin das Auge reicht. Und dann der See. Und mehr braucht es nicht.

Und Hagnau braucht auch kein schönes Wetter für Farben, Hagnau hat den Herbst: einen Goldenen. Einen von denen man oft in Büchern liest, und der diesjährige scheint ein besonders großer Angeber gewesen zu sein. Denn das frische Herbstlaub strahlt rot und orange, die dunklen Trauben bieten Kontrast. Erst seit ein paar Tagen ist das Wetter schlechter, erfahre ich. Der Himmel klärt ein wenig auf: Ich bin bereit für einen Spaziergang durch die Straßen Hagnaus. Auf dem Weg hinunter zu den weniger einsamen Straßen probiere ich mich durch die Trauben, erfahre viel über die Geschichte der Gemeinde, wo man den besten Zwiebelkuchen serviert bekommt und wo das beste Eis. Doch das bekannte Kibele Eis bekomme ich nicht mehr – der Verkaufsladen in der Seestraße 38 ist bereits im Winterschlaf.

Und den besten Wein? Den schenkt mir Anita Schmidt ein. Der Winzerverein Hagnau eG hat geladen und Anita Schmidt führt mich und weitere Weininteressierte durch den Abend. Wir schmecken uns durch über zehn unterschiedliche Weine: Müller-Thurgau, grauer Burgunder, blauer Spätburgunder, Spätburgunder Weißherbst. „Weißherbst ist ein schöner Begleiter. Ein Weißherbst macht lebendig, regt an“, schwärmt Anita Schmidt.

Die Gespräche bestätigen Anitas These. Sie kreisen alle um den Wein, doch hören da nicht auf: So erfahre ich viel über den Weinanbau und die Traditionen der Winzer, die amtierende Weinprinzessin erzählt von den Gründen ihrer Kandidatur und das man hier mit Wein aufwächst, dass er immer zentraler Mittelpunkt ist. Der Wein gehört in Hagnau zur Familie. Sie erzählt auch, wie sie in ihrer Amtszeit einmal am Flughafen den Sicherheitsleuten erklären musste, wieso sie eine Krone bei sich trug und wie schwierig es war, sich dafür zu rechtfertigen.

Und immer wieder lenkt sich das Gespräch auf die diesjährige Weinernte: 2015 sei ein sehr vielversprechender Jahrgang. Der warme Sommer und der lange, trockene Herbst machen Hoffnung auf einzigartige Weine, auf einen einzigartigen Genuss. Ich spüre die Euphorie, immer wieder wenn das Gespräch bei diesem Punkt verweilt und lasse mich anstecken: Wein ist super.

Weinprobe

Ein weiterer Tag

Der Wecker klingelt, der Regen klopft an die Fensterscheibe und ich beginne meinen Tag so, wie der letzte abschloss: mit Wein. Vorbei an Weinpressen und Laufbändern mit leeren und dann vollen Weinflaschen geht es in den Weinkeller des Hagnauer Winzervereins.

Fabrik

Kellermeister Jochen Sahler führt durch mehrere Gänge, entlang der Jahresfässer und lässt mich den ein oder anderen, noch nicht vollendeten Wein probieren. Ich frage ihn nach seinen Motiven: Wieso sind Sie Kellermeister geworden? Die Antwort ist natürlich der Genuss: „Ich möchte einen Wein machen, der nicht satt macht, sondern zum Nachschenken anregt. Damit man nicht nur ein Glas genießt, sondern auch ein zweites oder drittes Glas“, erklärt er mir. Ich merke: Wein ist hier viel mehr als ein Genussmittel. Er ist auch Hobby, Lebensinhalt und Berufung.

Weinkeller

Wenn man nicht in Übung ist, macht Hagnau betrunken. Ich betrete die Schaubrennerei von Walter Gutemann und werde begrüßt mit: „Jetzt mache ich uns erst einmal einen Gin Tonic.“ Den Dry Gin brennt Walter übrigens selbst und das schmeckt man. Gerade brennt er einen Brand und erklärt mir nebenbei das Handwerk.

Schnaps

Mir ist noch ganz warm von dem Morgen im Weinkeller und sogleich wird mir noch wärmer: Sind die Menschen hier im Ort Schuld daran? Ist es der Alkohol? Es empfiehlt sich eine gute Grundlage und für die ist ausreichend gesorgt. Eine Vesper ist bereits angerichtet – „Doch zuvor die Schnapsprobe, sonst verfälscht das den Geschmack!“ Walter Gutemann meint es ernst.

Schnaprsprobe

Und dann mache ich einen Spaziergang. Vorbei an noch nicht erwachsenen Apfelbäumen und einem Stuhl inmitten der Reben – wahrscheinlich ein ganz privater Lieblingsaussichtspunkt eines Winzers, jedoch dem kühlen Herbst der letzten Tage bereits zum Opfer gefallen – laufe ich durch die Weinfelder. Die vielen Reben machen mich neugierig: Wie geht das überhaupt, Wein ernten?

spaziergang

Das Handwerk

Also versuche ich mich beim Wimmeln. Ich schneide die Trauben, fülle meinen Eimer. Ich fühle mich gut, benutze meine Hände, bin an der frischen Luft. Es ist ein Handwerk und ich genieße es. „Aber auf die Hände aufpassen, die Scheren sind scharf“, warnt mich ein älterer Herr und lacht. Man sieht ihm an, dass er nicht zum ersten Mal dabei ist, seine Lachfalten erzählen von einigen Herbsten hier bei der Traubenlese und dem Spaß, den er dabei hatte und immer noch hat.

Wimmeln

Der Nachmittag kommt, und dann der Abend. Erschöpft aber sehr zufrieden liege ich auf dem Bett in meiner Pension. Seit zwei Tagen bin ich nun zu Gast in Hagnau, einer kleinen Winzergemeinde am Bodensee. Ich stehe auf und laufe zum Fenster, der See ist ruhig, vereinzelt pusten einige Schornsteine gen Himmel.

Wenn ich auf Reisen bin, denke ich, interessieren mich am meisten die Begegnungen mit Menschen, die ich zuvor noch nie getroffen habe und deren Geschichten. Dafür fliege ich hunderte von Kilometern, überwinde in Nachtzügen weite Strecken und suche in der Ferne etwas, dass ich bisher noch nicht kannte. Mir wird klar: Tolle Begegnungen – solche, die dich auch Tage später noch zum Schmunzeln bringen oder nachdenklich machen, zum Beispiel mit Schnapsbrennern und Winzern, mit Weinprinzessinnen oder Menschen, die die meisten Herbste ihres Lebens zwischen Rebstöcken verbrachten und dabei die ein oder andere Weintraube stibitzten, mit Mitreisenden und Personen, die über Wein sprechen als wäre die Rede von einer alten, großen Liebe – diese Begegnungen finde ich auch in Deutschland, nur eine fünfstündige Zugfahrt entfernt.

Die Reise wurde von der Gemeinde Hagnau am Bodensee unterstützt.

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Stella Pfeifer

Studiert und arbeitet in Kassel, doch am liebsten fährt sie durch fremde Landschaften oder mit der Belgrader Straßenbahn. Und schreibt darüber. Immer mit dabei: Ein Notizbuch und ein kleiner Beutel voller Fotofilme, denn ihre Reisen fotografiert sie ausschließlich analog. Was sie noch mag? Gespräche. Mehr dazu auf: fünfpluszwei.de.

  1. Martina says:

    Ich komme aus Baden-Württemberg und Dein Artikel lässt mich ans Remstal denken – wo es auch tollen Wein mit Zwiebelkuchen gibt !! Wenn ich das nächste Mal nach Deutschland komme, muss ich da unbedingt wieder hin.

    1. Marianna says:

      Kleine Anmerkung der Redaktion: „Nord-Peru Reisen“ ist kein Name :)
      Wir freuen uns wirklich sehr über Kommentare und Feedback, aber begrüßen es auch, wenn der Bereich nicht für SEO oder Werbezwecke genutzt wird.
      Auch Kommentare werden auf diesem Blog redaktionell überprüft.

      Liebe Grüße
      Marianna

      1. Hallo Marianna,
        Danke für Deine Nachricht. Ab sofort werde ich mit „Martina Peru“ unterschreiben. Liebe Grüsse aus Amazonas, wo wir argentinischen Wein, aber peruanischen Schnaps trinken :)
        Martina

          1. Ich bin nicht am Fluss Amazonas, sondern in der Region Amazonas, die auf über 1 800 m Höhe liegt, im Norden von Peru. Komm doch einfach mal schnell vorbei :) Hier gibt es archäologische Meisterstücke wie die befestigte Stadt von Kuelap, dem 3. höchsten Wasserfall der Welt, Gocta, oder auch einzigartige Kolibris.

  2. Maddie says:

    Wie toll geschrieben, sehr schöner Beitrag mit klasse Bildern! Jetzt habe ich wirklich Lust auf ein Gläschen Wein und auf einen neuen Trip in den schönen Süden. :-)
    Liebe Grüße aus dem Harz,
    Maddie

  3. Maria says:

    Toller Beitrag mit schönen Bildern! Ich war bisher nur auf der österreichischen Seite des Bodensees, aber die Region ist wohl noch mehrere Reisen wert … liebe Grüße, Maria

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